Deutschland: Superwahljahr 1994

Deutschland: Superwahljahr 1994
Deutschland: Superwahljahr 1994
 
Für das Jahr 1994, in dem nicht nur eine Europawahl, die Wahl des Bundespräsidenten sowie eine Bundestagswahl anstanden, sondern auch acht Landtags- und zehn Kommunalwahlen, hat sich die in den Medien vielfach verwendete Bezeichnung »Superwahljahr« durchgesetzt. Wahlanalytiker sahen diesem Wahlmarathon sorgenvoll entgegen, weil sie fürchteten, die Häufigkeit der Wahlgänge könnte die bereits vorhandene Politik- und Parteienverdrossenheit weiter anwachsen lassen. Andere Wahlbeobachter im In- und Ausland mutmaßten, die Welle der Gewaltaktionen der letzten Jahre könnte sich in Stimmengewinnen der rechtsradikalen Parteien auswirken und damit einen Rechtsruck der Politik im Lande herbeiführen. Zu Beginn des Jahres 1994 schien sich auf der Bonner Bühne ein Machtwechsel anzukündigen. In Meinungsumfragen lag der Herausforderer des Bundeskanzlers, der SPD-Vorsitzende und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Rudolf Scharping, deutlich vorne. Auch das Stimmungsbarometer im Lande ließ vermuten, dass ein Regierungswechsel nach zwölfjähriger Kanzlerschaft Kohls und liberalkonservativer Regierung gewünscht werde. Der Bundeskanzler selbst gab sich, unbeeindruckt von diesen Prognosen, gelassen optimistisch in Fernsehinterviews. Und tatsächlich schlug die Tendenz um. Der Kanzler holte in Meinungsumfragen ständig auf. Zwar hieß der Sieger der ersten Landtagswahlen in Niedersachsen im März Gerhard Schröder, der für die SPD nach fünfjähriger, positiv bewerteter rot-grüner Koalitionsregierung die absolute Mehrheit zurückholte. Aber schon die Bundespräsidentenwahl im Mai (siehe auch Herzog, Roman: Bundespräsident 1994-99) wurde als Erfolg der taktischen Züge des Kanzlers gewertet und in den Europawahlen am 12. Juni war die CDU/CSU klarer Sieger, während die SPD unerwartet hohe Verluste hinnehmen musste. Aus der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt Ende Juni gingen die bisher regierende CDU (mit Stimmenverlusten) und die SPD (mit Stimmengewinnen) nahezu gleich stark hervor. Der SPD-Landesvorsitzende Reinhard Höppner bildete mit dem Bündnis 90/Die Grünen eine Minderheitsregierung, die auf die Tolerierung durch die SED-Nachfolgepartei PDS angewiesen war (siehe auch Deutschland: Regierungen und Verfassungen der neuen Länder). In drei weiteren Landtagswahlen im September in Sachsen, Bayern und Brandenburg siegten jeweils mit absoluter Mehrheit die amtierenden Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU), Edmund Stoiber (CSU) und Manfred Stolpe (SPD). In allen Wahlen des Jahres 1994 bis auf die Bundestagswahl am 16. Oktober scheiterte die FDP an der Fünfprozenthürde. Mit 6,9 % der Stimmen ermöglichte die FDP dem Bundeskanzler, seine Koalitionsregierung fortzusetzen. Trotz Stimmengewinnen konnten Sozialdemokraten und Grüne keine Mehrheit bilden. Erfreulichstes Ergebnis des Superwahljahres war, dass die rechtsradikalen Parteien in keiner der Wahlen nennenswerte Stimmerfolge erzielen konnten. Der befürchtete Rechtsruck blieb aus. In den vier Landtagswahlen des Jahres 1995 (Hessen, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Berlin) endeten die angetretenen Rechtsparteien in der Bedeutungslosigkeit ebenso in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz im März 1996. Lediglich in Baden-Württemberg (ebenfalls März 1996) erzielten sie gegen den Trend 9,1 % (10,6 % 1992) und zogen mit 14 Abgeordneten in den Stuttgarter Landtag ein. In diesen letzten drei Landtagswahlen im Frühjahr 1996 verbuchte die bereits totgesagte FDP überraschend wieder Erfolge und zog in alle drei Landtage ein, in Baden-Württemberg ging sie mit der CDU eine Regierungskoalition ein, in Rheinland-Pfalz konnte sie sich in der sozialliberalen Koaltion behaupten. In Schleswig-Holstein bildete die stark gebeutelte SPD mit Bündnis 90/Die Grünen eine rot-grüne Koalition.

Universal-Lexikon. 2012.

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